Die unfreiwillige Ehefrau: Maria Ursula Clais-Sulzer (1766 - 1813)
Original-Text: Monika Imhof, Germanistin und Historikerin in Winterthur
Die Ehe als Akt der Vernunft
Heiraten hatte am Ende des 18. Jahrhunderts eine ganz andere Bedeutung als heute. Die Liebe, heute eine der wichtigsten Beweggründe für die Ehe, spielte dabei eine kleine, beinahe vernachlässigte Rolle. Soziale, religiöse und vor allem wirtschaftliche Faktoren waren ausschlaggebend für die Wahl der Ehepartnerin respektive des Ehepartners. So kannten auch die mei-sten Kantone religiöse oder wirtschaftliche Heiratsbeschränkungen. Gerade zur Zeit der Frühindustrialisierung waren finanzielle Aspekte bei der Eheschließung von großer Bedeutung. Inwieweit die Liebe bei diesen Eheschließungen eine Rolle spielte, wissen wir nicht; sie war jedenfalls keine Voraussetzung, aber sicher auch kein Hindernis.
Im Falle von Maria Ursula Clais-Sulzer standen die ökonomischen und familiären Faktoren im Vordergrund. Sie war für ihren zukünftigen Ehemann eine gute Partie, da sie Geld in die Ehe brachte und die Geschäftsbeziehungen ihres Ehemannes festigte.
Tochter aus gutem Hause ...
Maria Ursula Sulzer kam am 22. Februar 1766 in Winterthur als Tochter des Hans Jacob Sulzer und der Anna Katharina Sulzer, geborene Ziegler, zur Welt. Sie war die Älteste von sechs Geschwistern, von denen nur drei das Erwachsenenalter erreichten. Ihre Familie gehörte zu einem der erfolgreichen Zweige des bekannten Geschlechts der Sulzer. Der Vater, ein angesehener Bürger der Stadt, war Kaufmann und lebte mit seiner Familie im Haus «Zum Tiger» in der heutigen Steinberggasse. Als Stadtrichterund Mitbesitzer der ersten chemischen Fabrik der Schweiz, die er mit seinem Schwager und zukünftigen Schwiegersohn gegründet hatte, gehörten er und seine Familie zu den politisch und wirtschaftlich einflussreichsten Familien der Stadt Winterthur. Die Familie Sulzer konnte daher die Verheiratung ihrer Erstgeborenen nicht dem Zufall überlassen. Als Tochter aus gutem Hause war sie ein wichtiger Teil der Heiratspolitik, die ein nicht zu vernachlässigendes Instrument dazu war, Geld und Einfluss zusammenzuhalten. Es war in Winterthur üblich, dass die tonangebenden Familien untereinander heirateten. Nur so ist es zu erklären, dass sich über Jahrhunderte hinweg dieselben Familien in Winterthur an der Macht halten konnten. Der geschlossene Heiratskreis garantierte, dass Macht und Geld beisammen blieben. Diesen sozialen und wirtschaftlichen Kriterien hatte sich auch Maria Ursula bei der Wahl ihres Ehegatten unterzuordnen.
... heiratet einen vielversprechenden Mann
Maria Ursulas Angetrauter war Johann Sebastian Clais, ein vielseitiger Unternehmer der industriellen Frühzeit. Als Sohn armer Leute am 28. Februar 1742 im Dorf Hausen im Schwarzwald (heute im Wiesental, Anm. d. V.) geboren, wusste er seine Chance zu nutzen: Er wurde vom Landesherrn als besonders begabtes Kind eingestuft und darum gefördert und machte nach der Schule eine Uhrmacherlehre in Zürich. Seine Wanderjahre führten ihn nach England, wo er zu einem versierten Techniker wurde. Zurück in Deutschland, stand er jahrelang als Hofmechanikus im Dienste der Markgräfin Karoline Louise von Baden und ihres Mannes. Über einen Auftrag der Markgräfin im Zusammenhang mit Krapphandel und über verschiedene Freunde korrespondierte er mit dem Winterthurer Arzt und Chemiker Dr. Johannes Heinrich Ziegler, dem Onkel von Maria Ursula. 1777 traf Clais in Winterthur ein, um beim Aufbau der ersten chemischen Fabrik der Schweiz, auch Laboratorium genannt, mitzuarbeiten.
Einquartiert wurde er beim Schwager Dr. Zieglers, im Haus «Zum Tiger» bei Hans Jakob Sulzer-Ziegler, Vater von Maria Ursula. Obwohl ihn sein weiterer beruflicher Werdegang immer wieder ins Ausland führen sollte und er im Jahr 1782 Salinenoberkommissar in Bayern wurde, hatte er seinen festen Wohnsitz in Winterthur. Mit der Heirat 1784 ließ er sich endgültig hier nieder; als reicher Unternehmer gelang ihm, was zu dieser Zeit nur wenige schafften: der geschlossene Heiratskreis öffnete sich für einen Fremden.
Auf Brautschau
Maria Ursula Sulzer kannte ihren zukünftigen Ehemann schon seit ihrer Kindheit. Als sie etwa elf Jahre alt war, kam erstmals der Geschäftsfreund ihres Vaters, Johann Sebastian Clais, zu Besuch und logierte während seines Winterthurer Aufenthaltes bei der Familie Sulzer. Maria Ursulas Elternhaus sollte dem Unternehmer in den Jahren bis zur Heirat zum wichtigsten Stützpunkt in Winterthur werden. Nicht nur der Vater von Maria Ursula, auch deren Mutter Anna Katharina Ziegler-Sulzer schätzte den häufigen Gast. Die beiden pflegten eine äußerst innige Beziehung, die sich seit 1779 in einem regen Briefkontakt manifestierte. Anna Katharina wurde seine engste Vertraute, der er von seinen Ängsten und Sorgen erzählen konnte. Auch sein Wunsch, sich zu verheiraten, kam zur Sprache. So schrieb er ein Jahr vor seiner Hochzeit seiner zukünftigen Schwiegermutter:«jetzt sind wir in der goldenen Zeit, wo ein jedes unbedeutendes Vögelein sich in das grüne Büschelein ein Nestelein macht und um sich besser darin zu gefallen, so suchts sich ein Gehülfelein, die stolz auf ihre Wohnung sind und noch mehr, wie wonnevoll ist nicht ein jedes Gräschen, das diese beiden Vögelchen zu ihrem Neste erobern.»Der weitgereiste Geschäftsmann schien des steten Reisens müde, er wollte sich niederlassen und eine Familie gründen.
Das bürgerliche Frauenideal
Das Nest erinnert an Wärme und Geborgenheit, Dinge, für die Clais eine «Gehülfin» respektive eine Ehefrau brauchte. Das Bild des Nestleins korrespondiert mit dem bürgerlichen Frauenideal, das zu dieser Zeit, am Ende des Jahrhunderts, sich zu konstituieren begann. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Frauenbild geprägt von der Standeszugehörigkeit, d.h. davon, ob eine Frau Bäuerin, Handwerkerin oder Aristokratin war. Mit jedem Stand war auch die entsprechende Arbeit verknüpft; so war es selbstverständlich oder sogar nötig, dass Frauen auf dem Hof oder in der Werkstatt mitarbeiteten. Schätzungen gehen davon aus, dass Frauen mindestens die Hälfte des Familieneinkommens erwirtschafteten durch Eigenproduktion von Nahrungsmitteln und gewerbliche Arbeit. Eine wichtige Voraussetzung für die Mitarbeit von Frauen war die räumliche Einheit von Arbeits- und Wohnort. Das ausgehende Ancien Regime und die beginnende Industrialisierung ließen immer mehr außerhäusliche Arbeitsplätze entstehen und hoben die räumliche Einheit auf.Mit der Trennung von Arbeit und Wohnen entstanden nun zwei verschiedene Lebensbereiche, die der Geschlechterlinie nach aufgeteilt wurden. Alle Frauen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Stand, waren innerhalb des neu entstandenen bürgerlichen Ideals ausschließlich für das Häusliche und Private zuständig, für die innerhäuslichen Arbeitsplätze sozusagen. Ihre Männer hingegen waren für die außerhäusliche Arbeit verantwortlich. Man verstand sie als die Aktiven, die sich im öffentlichen Leben behaupten und zielgerichtet handeln mussten. Diese Aufteilung wurde als natürlich angesehen: die Frauen, von Natur aus sanft, emotional und darum für das Häusliche prädestiniert, die Männer hingegen für die Welt draußen wie geschaffen. Dieses bürgerliche Frauenideal klingt im Brief von Clais an, wenn er als weitgereister Geschäftsmann sich nach einem Nestlein sehnt, in dem ein Vögelein auf ihn wartet.
Die Schwiegermutter als Vermittlerin
Das «unbedeutende Vögelein» Clais hatte sich vom Sohn armer Eltern zum reichen Geschäftsmann und Salinenkommissar emporgearbeitet und war somit zum begehrten Schwiegersohn avanciert. Zwei Familien in Winterthur buhlten um seine Gunst, diejenigen seiner beiden Geschäftspartner Ziegler und Sulzer. Die Familien waren miteinander verwandt: Zieglers Schwester war Anna Katharina, die enge Vertraute von Clais. Sie war verheiratet mit dem anderen Geschäftspartner von Clais, mit Sulzer. Beide Familien hatten eine Tochter, die sie noch so gerne mit dem reichen Unternehmer verheiratet hätten. Ziegler hatte schon alles in die Wege geleitet, wie aus einem Brief von Clais zu entnehmen ist. Dieser ist sehr erstaunt, «...dass von Seiten dem Steinberg (Wohnhaus der Familie Ziegler, Anm. d. V.) die Sach so geschwind eingeleitet, fest gesetzt und ohne dass ich die Person recht kennte», und bezeichnet dieses Vorgehen als «eine kleine Verwegenheit». Der Salinenkommissar entschied sich jedoch nicht für die Tochter von Ziegler, sondern für Maria Ursula, die Tochter von Sulzer und seiner Vertrauten und langjährigen Brieffreundin Anna Katharina, was angesichts der engen Freundschaft zwischen den beiden nicht erstaunt. Clais ging sogar so weit, dass er Anna Katharina bat, seine Braut nach ihrem Vorbild zu formen. Maria Ursula war zwar 24 Jahre jünger als er, diesbezügliche Bedenken seiner Schwiegermutter schlug er in den Wind mit den Worten: «zählen wir ihr 6 Jahr zu und legen mir 8 Jahr von den meinigen in Vergessenheit, so könnts doch gehen». Die Verlobte schien über die Wahl ihres Zukünftigen unglücklich zu sein und zeigte ihm die kalte Schulter, wie aus einem Brief von Clais an seine zukünftige Schwiegermutter zu entnehmen ist: «Meine liebste beste Mama ( ... ) meine bald unerträglichen Leiden rührten von meiner Maria ihrer Abwesenheit und ihrer Kälte oder vielmehr gleichgültigem Wesen.» Die Braut hatte sich den Wünschen der Familie zu fügen, und es lag nun bei der Schwiegermutter, die Braut und den verärgerten Bruder Ziegler, der seine Tochter nicht hatte verheiraten können, wieder zu versöhnen.
Das Leben im Lindengut
Nach der Hochzeit am 27. Januar 1784 führte die Hochzeitsreise die Frischvermählten nach München. Noch im selben Jahr gebar Maria Ursula das erste Kind, dem im Lauf der Jahre noch sechs weitere folgen sollten, vier davon starben im frühen Kindesalter. Drei Jahre nach der Hochzeit bezog die Familie das neue Haus außerhalb der Stadttore, das Lindengut. Die im klassizistischen Stil gebaute Villa widerspiegelt die Bedeutung des aufstrebenden Bürgertums in dieser Zeit: Der erfolgreiche Unternehmer baute als einer der ersten Bürger in Winterthur sein Haus außerhalb der Stadtmauern. Zu einem bürgerlichen Haushalt gehörte auch zwingend eine Ehefrau, welche die repräsentativen Pflichten wahrnahm und die Kinder großzog. Dem ausführlichen Inventar der Villa, das nach dem Tod von Maria Ursula Clais erstellt wurde, ist zu entnehmen, dass im Lindengut das gesellige Leben eine große Rolle spielte. Davon zeugen die vielen Spieltische und unzähligen Sessel und Kanapees.Maria Ursula schien ihre Rolle als bürgerliche Hausfrau angenommen zu haben, leider ist uns über ihr weiteres Leben nicht viel überliefert. Bekannt ist nur, dass in ihrem Haushalt Anna Katharina Neuffert als Dienstmädchen arbeitete. Sie genoss das volle Vertrauen der Hausdame, die kränklich war und ihrem Dienstmädchen immer mehr überließ. Anna Katharina Neuffert lernte im Lindengut ihren späteren Mann Hans Jakob Sulzer kennen und ging als sogenannte Stammmutter des Sulzerkonzerns in die Winterthurer Geschichte ein. Ihre Hausherrin Maria Ursula Clais-Sulzer gelangte nicht zu solcher Berühmtheit. Sie starb 47-jährig in Winterthur.
Original-Text: Monika Imhof, Germanistin und Historikerin in Winterthur
(Winterthurer Jahrbuch 2000; mit freundlicher Genehmigung der Autorin)